Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Das
Sterben der Mütter
„Du
löscht sie aus wie einen Traum in der Nacht.“ Psalm 90,5.
Von Wolfgang Bauer,
Nido, 15.03.2010
Ihre Fingernägel
kratzen über die Wand, die schwarz und speckig ist von den Händen
unzähliger Frauen. Sie krallen im Putz, brechen kleine Körnchen aus
ihm und ziehen von oben nach unten eine helle Bahn. Haltlos fällt
der Arm hinab auf den gekrümmten Körper. Die 20-jährige Fatmata
Kammal windet sich auf einem Bettgestell, ausgezehrt, mit zitternden
Beinen, in der 41. Woche schwanger. Sie dreht den Kopf steil in den
Nacken und würgt die Kiefer auseinander. „Gott komm näher,“
keucht sie, „lieberlieberlieber Gott.“ Die Wehen haben
vor zwei Tagen begonnen, sie blutet seit zwei Wochen, und schon
längst hätte Fatmata das Baby bekommen sollen. Der Boden
unter ihrem Bett ist bedeckt von Urin, Erbrochenem und
blutiger Watte. „Pressen!“, rufen die alten Frauen, ihre
Geburtshelferinnen, die jetzt immer nervöser auf die
Schwangere schauen. Drei von ihnen haben sich in dieser
dunklen Kammer versammelt, dem Ort, an dem sich das Leben
und der Tod berühren.
„Pressen!“,
rufen die alten Frauen. Das Kreischen Fatmatas dringt durch die
Fenster auf den Dorfplatz hinaus und mischt sich ins fröhliche
Kindergeschrei der Provinz Kailahun im Südosten Sierra Leones. Es
ist Anfang März, ein Montag, kurz nach 14 Uhr. Eine halbe
Stunde zuvor hatte ein neunzehnköpfiger Tross aus Mutter,
Tanten und Geburtshelferinnen die Schwangere zum staatlichen
Gesundheitsposten des kleinen Zentralortes Bandajuma gebracht.
Ein Steinhaus mit halbzerrissenen Aufklärungsplakaten und einem
Gemüsebeet zur Selbstversorgung der Krankenschwester. Die Familie
war am späten Vormittag vom sechs Kilometer entfernten
Nachbarort Yendema hierher aufgebrochen. „Wir müssen nach
Bandajuma zur Schwester Hawa“, drängten die Frauen. „Nur
Gott und Hawa können noch helfen.“
Das Sterben der
Mütter ist eine der größten Katastrophen unserer Zeit, kaum
eine fordert so viele Opfer. Sie erzeugt keine Schlagzeilen -
aber Millionen von Witwern und Halbwaisen. Nach Angaben der
Weltgesundheitsorganisation sterben 536 000 Schwangere jedes
Jahr, mehr als die Hälfte davon in Afrika. Während 2007 in
Deutschland bei 672 724 Entbindungen 41 Frauen ums Leben kamen,
registrieren Hilfsorganisationen die weltweit höchste
Müttersterblichkeit im westafrikanischen Sierra Leone.
Eine von acht überlebt dort die Geburt nicht. Die Frauen gehen an
Infektionen zugrunde, sie verbluten, weil die Nachgeburt in
ihnen vergessen wurde. Sie krepieren an und mit ihrem Baby, weil
sie keinen Kaiserschnitt bekommen. Weil ihre inneren Organe
versagen. Weil unwissende Geburtshelferinnen mit den
falschen Medikament zur falschen Zeit die Wehen einleiten. Oder
der Weg zum nächsten Krankenhaus einfach zu weit ist. Hier in
Sierra Leone gibt es nichts, was für eine Frau
lebensbedrohlicher ist als: ein Kind in sich zu tragen.
Die Füße knickten
ihr ein, als Fatmata hinter dem mächtigen Colanuss-Baum, der ihr
Dorf überragt, den Pfad in die Wälder nahm. „Du willst doch
nicht hier im Busch gebären?!“, trieben sie die alten Frauen
voran, wenn die Schwangere vor Erschöpfung auf die Knie sank.
Fatmata selber wurde von ihrer Mutter auf einer Bastmatte zur
Welt gebracht. Sie lebt seit anderthalb Jahren mit dem Bauern Fomba
Kamor, der ihnen am Ortsrand eine kleine Lehmhütte baute. Stumm
läuft der 29-Jährige dem Zug der Frauen hinterher. Er ist ein
verbissener Arbeiter, wie kaum ein anderer im Ort, der alles aus
seinen Feldern herausholen will. Kasava-Pflanzen bauen
Fomba und Fatmata an, Reis und Palmfrüchte. Für beide ist es die
zweite Ehe, auch das zweite Kind. Zur Zeit scheint es nicht so gut um
ihre Beziehung bestellt, Fomba und Fati streiten sich
häufig. Sie ist eifersüchtig, er wirft ihr vor, bei der
Feldarbeit faul zu sein. Nach der Geburt, hofft er, wird etwas
mehr Frieden einkehren. Wird es alles besser werden.
Der Weg schickt sie
durch drei Sümpfe, auf schmatzender Erde, durch die bei jedem
Schritt das Wasser drückt. Es riecht nach Verwesung und Moder auf
diesem Pfad, der oft nicht breiter ist als zwei Paar Schuhe. Ameisen
bissen ihre Beine wund, Wurzeln ließen sie stolpern. Zwei Stunden
dauerte es, bis sie den Fluss erreichten, fünf Meter
breit, über den nur eine quergelegte Palme führt. Braunes
Wasser wälzt unter ihr, auf ihrem Stamm muss jeder für sich alleine
balancieren. „Es ist nicht mehr weit“, sagten die alten Frauen.
Fatmata kauerte sich ans Ufer und weigerte sich weiterzugehen.
Schlug um sich, wenn sie jemand an die Hand nahm. Wand sich
unter einer Wehenwelle. Raffte sich dann auf, setzte ihre
Füße vorsichtig auf die Palme und stand schließlich
vor Schwester Hawas Tür. Meistens ist die nicht da, aber
Fatmata hatte Glück. Hawa war da. Doch auch sie weiß jetzt
nicht, was tun.
Das Kind ist lange
überfällig. Es ist zu groß und Fatmatas Becken zu zierlich,
sieht Schwester Hawa. Folge einer Mangelernährung in ihrer
Kindheit. Den Wehen gelingt es nicht, das Baby durch dieses schmale
Nadelöhr hindurch zu zwängen.
Das Hörrohr drückt
sie sanft auf die Schwangere, die Blicke der beiden Frauen treffen
sich über dem Bauch. Unter dem tosenden Herzschlag der Mutter
erlauscht Hawa den leisen des Kindes. „Es lebt noch“, sagt sie.
Zwölf Dörfer mit knapp 15 000 Einwohnern betreut die 29-Jährige.
Ein ganzes Netzwerk aus solchen Gesundheitsposten liegt über
Sierra Leone. Laut Gesetz müssen alle Frauen im Umkreis bei Hawa
gebären, doch ist ihre Station weit weg von den meisten
Dörfern. Tatsächlich kommen sie nur in Notfällen zu ihr.
Sie hat eine Ausbildung von ein paar Monaten absolviert, bei der
ihr einige medizinische Grundsätze beigebracht
wurden. Monatlich 50 Dollar zahlt ihr das Gesundheitsministerium,
selten bekommt sie das Geld. Hawa stülpt die Hände in ihr
einziges Paar Gummihandschuhe. „Ich möchte fühlen, wo der
Kopf des Babys ist“, sagt sie und greift in die Scheide Fatmatas.
Die Handschuhe sind eben noch von den alten Frauen zum Aufwischen von
Erbrochenen benutzt worden, und sonst wäscht Hawa sie vor Gebrauch
mit Seife ab. Dieses Mal hat sie es vergessen. „Es ist noch sehr
weit drin“, sagt Hawa und verlässt den Raum.
„Mamie“,
wimmert Fatmata und packt eine Geburtshelferin, zerrt sie am Hemd zu
sich heran. „Hilf mir!“ „Ich kann dir nicht mehr helfen“,
sagt Mamie Momoh, 50, hartkantig, glasiger Blick, die sie durch
die ganze Schwangerschaft begleitete. „Du musst es
alleine tun, du und Gott.“ Momoh hat ebenfalls seit zwei
Tagen nicht geschlafen, heute nichts gegessen. Sie gehört der
Berufsgruppe an, der hauptsächlich die Müttersterblichkeit
in Afrika angelastet wird. Die Dorfhebammen haben selten eine Schule
besucht, vererben ihr Wissen durch die Generationen. Sie
machen viele Fehler, arbeiten nur mit Hörrohr und nackten Händen,
aber sie sind die einzigen, die sich kümmern. Auch jetzt. Denn im
Grunde mag Schwester Hawa ihren Beruf nicht, er widert sie an,
das erzählt sie jedem. Aber er ist einer der wenigen, für den
sich Frauen in Sierra Leone schulisch ausbilden lassen können.
Hawa liegt mit ausgestreckten Beinen vor dem Haus und sieht, wie
die Sonne hinter dem Horizont versinkt.
Die Nacht fällt
über das Land, das schon vor Jahren aufhörte, zu existieren. Nach
dem Bürgerkrieg und bis zu 200 000 Toten ist Sierra Leone wie
ausgelöscht. Ein Staatsgebilde, niedergerissen bis auf die
Grundmauern. Zwischen 1993 und 2002 wurde die Vorzeigenation
Westafrikas mit ihren Musteruniversitäten von Armeen
aus Kindersoldaten zermalmt. Unter Drogen hackten sie den Menschen
die Hände ab, die Arme, schnitten ihnen die Lippen von den Mündern.
Fatmatas Familie rettete sich nach Liberia, ihr Mann Fomba
ging nach Guinea. Bei ihrer Rückkehr klaffte dort, wo
einst ihr Dorf stand, eine leere Waldlichtung. In acht Jahren haben
sie ihre Heimat wieder aufgebaut, ohne Hilfe. Sierra Leone gilt heute
als eines der ärmsten Länder der Welt, 70 Prozent der Menschen
leben von weniger als einem Dollar am Tag. Was früher Stein war
in diesem Staat, ist heute Lehm.
Nackt stemmt sich
Fatmata auf, mit zu Fäusten gekrümmten Händen. Ihr Kopf hängt
zwischen den Schultern. Ein Zittern durchläuft die Arme, als sie
langsam ihren Oberkörper aufrichtet. Die vier
Geburtshelferinnen treten an sie heran, legen schweigend ihre
Handflächen über ihren Kopf. Andere Frauen kommen dazu,
stellen ihr einen Plastiktopf mit gesegneten Süßigkeiten auf
den Scheitel, berühren sie. Fatmata schließt die Augen. Sie
beten. Die Gemeinschaft der Frauen. Es sind sehr alte Gebete in einer
Sprache, die sie längst nicht mehr verstehen. Danach kippt Fatmata
um. Die Geburtshelferinnen hocken sich wieder an den Bettrand,
wo sie ihre knorrigen Finger kneten.
Die Familie kauft
Kerosin für die Lampe, die in der Kammer angezündet werden
soll. Es gibt hier kein anderes Licht. „Was ist das nur
für ein Kind, das mir solche Schmerzen bereitet?“,
flüstert Fatmata und rammt ihre Beine gegen die Mauer. „Du
solltest Buße tun!“, rät Mamie Momoh. Gott strafe die
Schwangere für ihr wildes Temperament. „Bitte deinen Mann um
Vergebung“, drängt Momoh. „Du hast ihn gedemütigt. So oft
hast du ihn beschimpft.“ Draußen vor dem Fenster sinkt Fomba auf
die Knie und betet für die Erlösung seiner Frau. Doch Fati
hört sie alle nicht, sie hört nur ihr eigenes gellendes
Schreien.
Die Zeit, die Mutter
und Kind bleibt, schwindet. Es ist gegen 20 Uhr. Schwester Hawa
drängt die Familie. „Bei mir wird sie sterben. Ihr müsst sie
ins Krankenhaus bringen.“ Die Schwangere auf der Pritsche hebt
den Kopf. „Das ist viel zu teuer.“ Ihre Familie besitzt keine
Ersparnisse. „Dein Leben ist doch wichtiger als das Geld!“,
ruft Hawa. Der Familienrat entscheidet, das Angebot des
NIDO-Teams anzunehmen und mit dem Jeep der Reporter ins 25
Kilometer entfernte „Nixon Memorial Methodist Hospital“ in
der Kleinstadt Segbwema zu fahren. Dort gibt es eine
Entbindungsstation und die einzige qualifizierte
Hebamme in 80 Kilometern Umkreis. 300 Meter davor erleidet
Fatmata einen Anfall, ihre Augen drehen ins Weiße, Schaum
quillt aus dem Mund, ihre Muskeln zucken und werden starr.
Der Wagen erreicht
Minuten später das Gebäude des Geburtentrakts. Sie scheint
verloren. Marianna Kamara, die Mutter Fatmatas, die die Fahrt über
neben ihr gesessen hatte, hält den reglosen Körper im Arm. „Tu
uns das nicht an, Fati! Lass uns nicht alleine!“, schreit sie im
Wagen. Weinend wirft sie sich auf die Erde, schlägt mit den Fäusten
in den Staub. „Mein Juwel! Mein kleines Mädchen!“ Eine
ältere Schwester rennt außer sich auf und ab. Die Augen
schockgeweitet. „Fati ist tot!“, wiederholen Tanten, Nichten,
Schwestern. Sie raufen sich die Haare. „Fati ist tot!“ Sie
brüllen in die Nacht, sie brächten sich um. Ihr Ehemann Fomba legt
Fatmata auf dem Boden ab. Sie atmet noch.
Doch das Nixon
Memorial, das ihre Rettung sein soll, bietet Hoffnung nur in geringen
Dosen. Stolz auf einem Hügel gelegen, von den britischen
Kolonialherren in den Dreißiger Jahren errichtet, in der Folge
immer weiter ausgebaut, galt das Nixon als modernste Klinik der
östlichen Landeshälfte. Die Erinnerung daran ist geblieben, mehr
nicht. Die Kriegsjahre verwandelten den Bau in eine Ruine, Gras
überwucherte das Gelände, und im OP-Trakt von einst nisten die
Schlangen. Jetzt operieren sie im Nixon in der früheren
Mitarbeiter-Kantine, das Chirurgie-Besteck wird zum
Sterilisieren in heißem Wasser abgekocht. Es gibt einen
Arzt und eine Hebamme, die sich jedoch um Fatmata nicht kümmern
kann. „Ich bin müde“, sagt sie schroff, als sie telefonisch
benachrichtigt wird. „Ich habe den ganzen Tag vor lauter
Arbeit nichts gegessen. Ich kann nicht kommen.“
Der Himmel öffnet
sich, es bricht aus ihm heraus, Regen, der in Bachstärke vom
Krankenhausdach schäumt. Blitze erhellen kurzzeitig die
unbeleuchteten Innenräume. Fatmata liegt auf der endlich
aufgetriebenen Bahre. Der diensthabende Krankenpfleger steht
neben ihr und erbittet von der Familie zunächst eine
„persönliche Geste“, bevor er sich dem Notfall widmen könne. Er
will bestochen werden. Lustlos setzen sich die Schwesternschülerinnen
in Bewegung, erstes Ausbildungsjahr, es gibt im
Entbindungstrakt zehn von ihnen. Sie rennen nicht, sie
schreiten in ihren blauen Uniformen. Fatmata hat eine sogenannte
Eklampsie, hochschießenden Blutdruck und Krampfanfälle.
In Sierra Leone verläuft diese Krankheit häufig tödlich. Ihr
Gehirn wird unterversorgt. Das Kind ebenfalls. Dringend bräuchte
sie eine Magnesiumsulfat-Injektion, um die Muskeln zu lösen,
dazu einen Kaiserschnitt. Sie wird im Kreißsaal auf eine Pritsche
gelegt und bekommt statt dessen: nichts.
Die Todesrate im
Nixon Memorial ist hoch. Hier starben im Jahr 2009 zwölf von 125
Patientinnen. Am geringsten sind die Überlebenschancen von Frauen,
die zur Nachtschicht eingeliefert werden. Der Krankenpfleger
überlässt Fatmata den Schwesternschülerinnen, er flirtet mit
ihnen, füllt Formulare aus, dann geht er schlafen. Die in
Lebensgefahr schwebende hat er nur einmal kurz angeschaut. „Ich
kann euch nicht mehr ertragen“, herrscht eine Schülerin Fatmatas
Mutter und ihre Geburtshelferin an und wirft sie aus dem
Kreißsaal. Nun gibt es niemanden mehr, der der Schwangeren
Aufmerksamkeit schenkt. Der Raum ist erfüllt vom Scherzen,
Lachen, Kichern der Auszubildenden – und dem Schreien des
Mädchens. „Du darfst nicht so schreien“, tippt eine Schülerin
mit der Fingerkuppe auf ihr nacktes Fleisch, „dann wirst du
hässlich, hässlich, hässlich.“ Wenig später fließt Blut
aus Fatmatas Mund.
Die Sehnen heben
sich zentimeterdick aus ihrem Hals, der Kopf biegt sich zurück, die
Beine strecken sich, dass die Knie knacken. Ein zweiter Anfall, gegen
neun Uhr. Die zehn Auszubildenden unterbrechen das Blödeln,
jemand weckt den Krankenpfleger. „Schnell“, sagt er. Fatmata hat
sich im Krampf in ihre Zunge verbissen, daher das Blut, an dem sie
jetzt zu ersticken droht. „Schnell“, sagt er wieder. Jeder
Atemzug gurgelt in der Luftröhre. Die Auszubildenden drücken
die zuckenden Beine auf die Pritsche. Er zieht endlich eine Spitze
des Magnesiumsulfat auf, schickt eine Schülerin ins Labor, um
einen Esslöffel zu holen. Sticht die Nadel in die Hüfte der
Starren, lässt die Schülerin mit dem Watte umwickelten
Löffelstiel den verbissenen Kiefer aufbrechen. Sie schafft
es alleine nicht, andere treten hinzu, halten den Kopf, zu
dritt, zu viert. Dann gelingt es ihnen, und das Gurgeln wird
schwächer, bis es verklingt.
Schweigend sammelt
sich die Familie an der Glastür zum Kreißsaal, die ist mit
weißer Farbe bestrichen, doch gibt es Risse. Durch die starren sie,
im Stehen, in der Hocke, auf dem Bauch liegend. Fatmatas Mutter
drückt ihr Gesicht an das Glas, legt ihre Hände darauf. Marianna
Kamara ist unter den Frauen bereits eine Art Kriegsveteran. Die
40-Jährige hat die Kinderphase lebend überstanden, sechs Geburten,
ganz knapp die von Fatmata. „Zwei Tage lang“, sagt sie. „Solche
Schmerzen.“ Doch viele andere waren um sie herum verstorben,
Nachbarinnen, Frauen, die sie von der Feldarbeit kannte, erst neulich
eine Cousine wieder. „Aber nicht Fati,“ sagt die Mutter an der
Glastür. „Nicht sie.“ Das Kinderkriegen schlägt größere
Lücken in die Frauenjahrgänge Sierra Leones als sie der Krieg in
die Reihen der Männer jemals riss.
Die Krämpfe flauen
ab, geben Fatmatas Körper wieder frei. Sie dämmert dahin, glaubt,
sie sei zu Hause, in der Hütte in ihrem Dorf. Die Fruchtblase platzt
kurz vor Mitternacht. Der Krankenpfleger zieht die Gummihandschuhe
an. Er horcht mit dem Hörrohr, das Baby lebt, ist aber noch tief in
der Mutter. Die immer erschöpfter wird. Die Wehen werden
schwächer. Wieder und wieder krümmt sie sich in den nächsten
Stunden auf ihrer Pritsche, bäumt sich auf. Sie schreit längst
nicht mehr, sondern wimmert nur. Liegt oft reglos da wie ein
Opferlamm auf der Schlachtbank. „Vielleicht“, sagt der
Krankenpfleger gegen 2.40 Uhr, „ist es schon zu spät für das
Kind.“ Er beugt sich zu Fatmata hinunter und spricht ihr ins Ohr.
„Streng dich an. Du kriegst sonst einen Kaiserschnitt. Der wird
deiner Familie ein Vermögen kosten.“ Den Erlös einer ganzen
Jahresernte.
Das ist der Grund
für die große Leere im Nixon Memorial, die vielen unbelegten
Betten. Wie verloren bewegen sich die wenigen Patienten zwischen
ihnen. Während draußen die Menschen darben, einfachste Leiden nicht
kurieren können, langweilt sich hier das Pflegepersonal. So ist es
überall in Sierra Leone. Es gibt Krankenhäuser, aber nur
wenige gehen hin. Nur wenige können sie es sich leisten. Es muss in
bar bezahlt werden, jede Kanüle, jede Handreichung. Die als
Notfälle Eingelieferten werden solange im Krankenhaus
gehalten, bis ihre Familie sie auslösen. Im Entbindungstrakt
des Nixon Memorial lebt seit über drei Monaten eine Frau mit
Säugling, die der Klinik 80 Euro für einen Kaiserschnitt
schuldet. Ihr Mann, ein Diamantenschürfer, kam zum letzten Mal
vor Wochen vorbei. Sie ernährt sich von Essenresten der
Schwesternschülerinnen. „Ich habe daran gedacht, einfach
wegzulaufen“, sagt sie. „Aber ich habe Angst vor den Schwestern.
Sie würden mich finden.“ Deshalb bleiben die Menschen in den
Dörfern. Der Tod dort ist günstiger als der hinter Klinik-Mauern.
Die einzige Ausnahme
im Land ist die Klinik der französischen Hilfsorganisation
„Ärzte ohne Grenzen“ im Distrikt Bo, vier Autostunden entfernt.
Die Behandlung ist kostenlos, die 21 Betten im Entbindungstrakt sind
häufig doppelt belegt. Aus allen Landesteilen kommen verzweifelte
Frauen. Doch selbst diese letzte Zuflucht ist bald keine mehr. Die
Helfer, auf Krisen spezialisiert, ziehen sich in zwei Jahren zurück
- wie viele andere Organisationen, die das Land bereits
verlassen haben. Denn in Sierra Leone wird seit vielen Jahren
nicht mehr gekämpft. Es gilt nicht länger als Krisengebiet. Die
Frauenärztin Greetje Torbeyus – wohl die einzige im ganzen
Land - ist bei „Ärzte ohne Grenzen“ jeden Tag davon umgeben.
„Die Zustand der Frauen ist hier viel schlechter als etwa im
Kongo“, sagt sie. „Die Komplikationen sind ernster. Die
Frauen kommen, wenn sie sich fast zu Tode geblutet haben.“ „Ärzte
ohne Grenzen“ suchen eine Hilfsorganisation, die das Krankenhaus
übernimmt. Bisher hat sich noch keine gefunden.
Unweit des Nixon
Memorial steht der Sarg am Altar der methodistischen Kirche, die
Trauergemeinde trägt weiß. Es ist der Tag, bevor Fatmata im
Kreißsaal mit dem Leben ringt. „Sehr bald werdet ihr an ihrer
Stelle sein“, zeigt der Priester auf den aufgebahrten Sarg. Darin
liegt die Frau eines hohen Regierungsbeamten. Sie ist mit 37 in der
Hauptstadt Freetown während ihrer vierten
Schwangerschaft gestorben und wurde von ihrem Mann in ihre Heimat
überführt. Er klammert sich an den Sarg, so wie sich die
kleinste seiner Töchter an ihn klammert. Sechs ist sie neulich
geworden. Sie weicht nicht von seiner Seite. „Ich weiß nicht, wie
es jetzt weitergehen soll“, sagt er und klopft weinend
auf den Sargdeckel. „Sie hat mich geliebt.“ Freunde lösen
ihn vom Sarg, und der Priester zitiert die englische Übersetzung
von Psalm 90,5. „Du löscht sie aus wie einen Traum in der Nacht.“
Der vergängliche Mensch. Das ist der Trost, der ihnen in dieser
Kirche bleibt.
Das Leben bricht aus
Fatmata hervor. Eine letzte Kraftanstrengung drückt den Kopf
hinaus, ein letztes Schreien presst die Schultern heraus. Der
Krankenpfleger umfasst behutsam den Leib des Babys. Die Uhr im
Kreißsaal steht auf 3.47 Uhr.
Es ist ein Mädchen.
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