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Wolfgang Bauer „Das Sterben der Mütter

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Das Sterben der Mütter

Du löscht sie aus wie einen Traum in der Nacht.“ Psalm 90,5.


Von Wolfgang Bauer, Nido, 15.03.2010


Ihre Fingernägel kratzen über die Wand, die schwarz und speckig ist von den Händen unzähliger Frauen. Sie krallen im Putz, brechen kleine Körnchen aus ihm und ziehen von oben nach unten eine helle Bahn. Haltlos fällt der Arm hinab auf den gekrümmten Körper. Die 20-jährige Fatmata Kammal windet sich auf einem Bettgestell, ausgezehrt, mit zitternden Beinen, in der 41. Woche schwanger. Sie dreht den Kopf steil in den Nacken und würgt die Kiefer auseinander. „Gott komm näher,“ keucht sie, „lieberlieberlieber Gott.“ Die We­hen ha­ben vor zwei Tagen begonnen, sie blutet seit zwei Wo­chen, und schon längst hätte Fatmata das Baby bekom­men sollen. Der Boden un­ter ih­rem Bett ist bedeckt von Urin, Er­brochenem und bluti­ger Watte. „Pressen!“, rufen die alten Frauen, ihre Geburts­helferinnen, die jetzt immer nervöser auf die Schwan­gere schau­en. Drei von ihnen haben sich in dieser dunklen Kam­mer ver­sammelt, dem Ort, an dem sich das Le­ben und der Tod be­rühren.

Pressen!“, rufen die alten Frauen. Das Krei­schen Fatmatas dringt durch die Fenster auf den Dorfplatz hinaus und mischt sich ins fröhliche Kindergeschrei der Provinz Kailahun im Südosten Sierra Leones. Es ist Anfang März, ein Mon­tag, kurz nach 14 Uhr. Eine halbe Stunde zuvor hatte ein neun­zehnköpfiger Tross aus Mutter, Tanten und Geburtshelferin­nen die Schwangere zum staatlichen Gesund­heitsposten des kleinen Zentralortes Bandajuma gebracht. Ein Steinhaus mit halbzer­rissenen Aufklärungsplakaten und einem Gemüsebeet zur Selbstversorgung der Krankenschwester. Die Familie war am späten Vormittag vom sechs Kilometer ent­fernten Nach­barort Yendema hierher aufgebrochen. „Wir müssen nach Ban­dajuma zur Schwester Hawa“, drängten die Frauen. „Nur Gott und Hawa können noch hel­fen.“

Das Sterben der Mütter ist eine der größten Katastrophen un­serer Zeit, kaum eine fordert so viele Opfer. Sie erzeugt keine Schlag­zeilen - aber Millionen von Witwern und Halbwaisen. Nach Angaben der Weltgesund­heitsorganisation sterben 536 000 Schwangere jedes Jahr, mehr als die Hälfte davon in Afrika. Während 2007 in Deutschland bei 672 724 Entbin­dungen 41 Frauen ums Leben kamen, registrieren Hilfsorga­nisationen die weltweit höchste Müttersterblichkeit im west­afrikanischen Sierra Leo­ne. Eine von acht überlebt dort die Geburt nicht. Die Frauen gehen an Infektionen zu­grunde, sie verblu­ten, weil die Nachgeburt in ihnen vergessen wurde. Sie kre­pieren an und mit ihrem Baby, weil sie kei­nen Kaiser­schnitt bekommen. Weil ihre inneren Organe ver­sagen. Weil unwis­sende Ge­burtshelferinnen mit den falschen Medika­ment zur falschen Zeit die Wehen einleiten. Oder der Weg zum nächs­ten Krankenhaus einfach zu weit ist. Hier in Sierra Leo­ne gibt es nichts, was für eine Frau lebensbedrohli­cher ist als: ein Kind in sich zu tragen.

Die Füße knickten ihr ein, als Fatmata hinter dem mächtigen Colanuss-Baum, der ihr Dorf überragt, den Pfad in die Wäl­der nahm. „Du willst doch nicht hier im Busch gebären?!“, trieben sie die alten Frauen voran, wenn die Schwangere vor Er­schöpfung auf die Knie sank. Fatmata selber wurde von ih­rer Mutter auf einer Bastmatte zur Welt gebracht. Sie lebt seit anderthalb Jahren mit dem Bauern Fomba Kamor, der ihnen am Orts­rand eine kleine Lehmhütte baute. Stumm läuft der 29-Jährige dem Zug der Frauen hinterher. Er ist ein verbisse­ner Arbeiter, wie kaum ein anderer im Ort, der alles aus sei­nen Fel­dern heraus­holen will. Kasava-Pflanzen bauen Fomba und Fatmata an, Reis und Palmfrüchte. Für beide ist es die zweite Ehe, auch das zweite Kind. Zur Zeit scheint es nicht so gut um ihre Be­ziehung be­stellt, Fomba und Fati streiten sich häufig. Sie ist ei­fersüchtig, er wirft ihr vor, bei der Feld­arbeit faul zu sein. Nach der Geburt, hofft er, wird etwas mehr Frieden einkehren. Wird es alles besser werden.

Der Weg schickt sie durch drei Sümpfe, auf schmat­zender Erde, durch die bei jedem Schritt das Wasser drückt. Es riecht nach Verwesung und Moder auf diesem Pfad, der oft nicht breiter ist als zwei Paar Schuhe. Ameisen bissen ihre Beine wund, Wurzeln ließen sie stolpern. Zwei Stunden dau­erte es, bis sie den Fluss er­reichten, fünf Meter breit, über den nur eine quergelegte Pal­me führt. Braunes Wasser wälzt unter ihr, auf ihrem Stamm muss jeder für sich alleine balancieren. „Es ist nicht mehr weit“, sagten die alten Frauen. Fatmata kauerte sich ans Ufer und weigerte sich weiter­zugehen. Schlug um sich, wenn sie je­mand an die Hand nahm. Wand sich unter ei­ner Wehenwel­le. Raffte sich dann auf, setzte ihre Füße vor­sichtig auf die Pal­me und stand schließ­lich vor Schwester Ha­was Tür. Meis­tens ist die nicht da, aber Fat­mata hatte Glück. Hawa war da. Doch auch sie weiß jetzt nicht, was tun.

Das Kind ist lange überfällig. Es ist zu groß und Fatmatas Be­cken zu zierlich, sieht Schwester Hawa. Folge einer Mangel­ernährung in ihrer Kindheit. Den Wehen gelingt es nicht, das Baby durch dieses schmale Nadelöhr hindurch zu zwängen.

Das Hörrohr drückt sie sanft auf die Schwangere, die Blicke der beiden Frauen treffen sich über dem Bauch. Unter dem tosenden Herzschlag der Mutter erlauscht Hawa den leisen des Kindes. „Es lebt noch“, sagt sie. Zwölf Dörfer mit knapp 15 000 Einwohnern betreut die 29-Jährige. Ein ganzes Netz­werk aus solchen Gesundheitsposten liegt über Sierra Leone. Laut Gesetz müssen alle Frauen im Umkreis bei Hawa gebä­ren, doch ist ihre Station weit weg von den meisten Dörfern. Tatsäch­lich kom­men sie nur in Notfällen zu ihr. Sie hat eine Ausbildung von ein paar Monaten ab­solviert, bei der ihr eini­ge medizini­sche Grundsät­ze beigebracht wurden. Monatlich 50 Dollar zahlt ihr das Gesundheits­ministerium, selten be­kommt sie das Geld. Hawa stülpt die Hände in ihr einziges Paar Gummi­handschuhe. „Ich möchte fühlen, wo der Kopf des Babys ist“, sagt sie und greift in die Scheide Fatma­tas. Die Handschuhe sind eben noch von den alten Frauen zum Aufwischen von Erbrochenen benutzt worden, und sonst wäscht Hawa sie vor Gebrauch mit Seife ab. Dieses Mal hat sie es vergessen. „Es ist noch sehr weit drin“, sagt Hawa und verlässt den Raum.

Mamie“, wimmert Fatmata und packt eine Geburtshelferin, zerrt sie am Hemd zu sich heran. „Hilf mir!“ „Ich kann dir nicht mehr helfen“, sagt Mamie Momoh, 50, hartkantig, gla­siger Blick, die sie durch die ganze Schwanger­schaft begleite­te. „Du musst es alleine tun, du und Gott.“ Mo­moh hat eben­falls seit zwei Tagen nicht geschlafen, heute nichts gegessen. Sie gehört der Berufsgruppe an, der haupt­sächlich die Mütter­sterblichkeit in Afrika angelastet wird. Die Dorfhebammen haben selten eine Schule besucht, ver­erben ihr Wis­sen durch die Generationen. Sie machen viele Fehler, arbeiten nur mit Hörrohr und nackten Händen, aber sie sind die einzigen, die sich kümmern. Auch jetzt. Denn im Grunde mag Schwes­ter Hawa ihren Beruf nicht, er widert sie an, das erzählt sie je­dem. Aber er ist einer der wenigen, für den sich Frauen in Si­erra Leone schulisch ausbilden lassen können. Hawa liegt mit aus­gestreckten Beinen vor dem Haus und sieht, wie die Son­ne hinter dem Horizont ver­sinkt.

Die Nacht fällt über das Land, das schon vor Jahren aufhörte, zu existieren. Nach dem Bürgerkrieg und bis zu 200 000 To­ten ist Sierra Leone wie ausgelöscht. Ein Staatsge­bilde, nie­dergerissen bis auf die Grundmauern. Zwischen 1993 und 2002 wurde die Vorzeigenation Westafri­kas mit ih­ren Mus­teruniversitäten von Armeen aus Kindersoldaten zermalmt. Unter Drogen hackten sie den Menschen die Hände ab, die Arme, schnitten ihnen die Lippen von den Mündern. Fatma­tas Fami­lie rettete sich nach Liberia, ihr Mann Fomba ging nach Gui­nea. Bei ih­rer Rückkehr klaffte dort, wo einst ihr Dorf stand, eine leere Waldlichtung. In acht Jahren haben sie ihre Heimat wieder aufgebaut, ohne Hilfe. Sierra Leone gilt heute als ei­nes der ärmsten Länder der Welt, 70 Prozent der Menschen leben von weni­ger als einem Dollar am Tag. Was früher Stein war in diesem Staat, ist heute Lehm.

Nackt stemmt sich Fatmata auf, mit zu Fäusten gekrümmten Hän­den. Ihr Kopf hängt zwischen den Schultern. Ein Zittern durchläuft die Arme, als sie langsam ihren Oberkörper auf­richtet. Die vier Geburtshelferinnen treten an sie heran, legen schweigend ihre Handflächen über ihren Kopf. Andere Frau­en kommen dazu, stellen ihr einen Plastiktopf mit gesegneten Sü­ßigkeiten auf den Scheitel, berühren sie. Fat­mata schließt die Augen. Sie beten. Die Gemeinschaft der Frauen. Es sind sehr alte Gebete in einer Sprache, die sie längst nicht mehr verstehen. Danach kippt Fatmata um. Die Ge­burtshelferinnen hocken sich wieder an den Bettrand, wo sie ihre knorri­gen Finger kneten.

Die Familie kauft Kero­sin für die Lampe, die in der Kammer angezündet werden soll. Es gibt hier kei­n an­deres Licht. „Was ist das nur für ein Kind, das mir sol­che Schmerzen be­reitet?“, flüstert Fatmata und rammt ihre Beine gegen die Mauer. „Du solltest Buße tun!“, rät Mamie Mo­moh. Gott strafe die Schwangere für ihr wildes Temperament. „Bitte dei­nen Mann um Vergebung“, drängt Momoh. „Du hast ihn ge­demütigt. So oft hast du ihn beschimpft.“ Draußen vor dem Fenster sinkt Fomba auf die Knie und betet für die Erlö­sung seiner Frau. Doch Fati hört sie alle nicht, sie hört nur ihr eige­nes gellend­es Schreien.

Die Zeit, die Mutter und Kind bleibt, schwindet. Es ist gegen 20 Uhr. Schwester Hawa drängt die Fa­milie. „Bei mir wird sie sterben. Ihr müsst sie ins Kran­kenhaus bringen.“ Die Schwangere auf der Pritsche hebt den Kopf. „Das ist viel zu teuer.“ Ihre Familie besitzt keine Er­sparnisse. „Dein Leben ist doch wichtiger als das Geld!“, ruft Hawa. Der Fa­milienrat entscheidet, das Angebot des NIDO-Teams anzu­nehmen und mit dem Jeep der Reporter ins 25 Kilometer ent­fernte „Nixon Memorial Methodist Hospital“ in der Klein­stadt Segbwema zu fahren. Dort gibt es eine Entbin­dungsstation und die einzi­ge qualifi­zierte Hebamme in 80 Ki­lometern Umkreis. 300 Me­ter davor erleidet Fatmata einen An­fall, ihre Augen drehen ins Weiße, Schaum quillt aus dem Mund, ihre Muskeln zu­cken und werden starr.

Der Wagen erreicht Minuten später das Gebäude des Gebur­tentrakts. Sie scheint verloren. Marianna Kamara, die Mutter Fatmatas, die die Fahrt über neben ihr gesessen hatte, hält den reglosen Körper im Arm. „Tu uns das nicht an, Fati! Lass uns nicht alleine!“, schreit sie im Wagen. Weinend wirft sie sich auf die Erde, schlägt mit den Fäusten in den Staub. „Mein Ju­wel! Mein kleines Mädchen!“ Eine ältere Schwester rennt au­ßer sich auf und ab. Die Augen schockgeweitet. „Fati ist tot!“, wiederholen Tanten, Nichten, Schwestern. Sie rau­fen sich die Haare. „Fati ist tot!“ Sie brüllen in die Nacht, sie brächten sich um. Ihr Ehemann Fomba legt Fatmata auf dem Boden ab. Sie atmet noch.

Doch das Nixon Memorial, das ihre Rettung sein soll, bietet Hoffnung nur in geringen Dosen. Stolz auf einem Hügel gele­gen, von den britischen Kolonialherren in den Dreißiger Jah­ren errichtet, in der Folge immer weiter ausgebaut, galt das Nixon als modernste Klinik der östlichen Landeshälfte. Die Erinnerung daran ist geblieben, mehr nicht. Die Kriegs­jahre verwandelten den Bau in eine Ruine, Gras überwuchert­e das Gelände, und im OP-Trakt von einst nisten die Schlan­gen. Jetzt operieren sie im Nixon in der früheren Mit­arbeiter-Kantine, das Chirurgie-Besteck wird zum Sterilisie­ren in hei­ßem Wasser abgekocht. Es gibt einen Arzt und eine Hebamme, die sich jedoch um Fatmata nicht kümmern kann. „Ich bin müde“, sagt sie schroff, als sie telefonisch benach­richtigt wird. „Ich habe den ganzen Tag vor lauter Ar­beit nichts ge­gessen. Ich kann nicht kommen.“

Der Himmel öffnet sich, es bricht aus ihm heraus, Regen, der in Bachstärke vom Krankenhausdach schäumt. Blitze erhel­len kurzzeitig die unbeleuchteten Innenräume. Fatmata liegt auf der endlich aufgetriebenen Bahre. Der diensthabende Kran­kenpfleger steht neben ihr und erbittet von der Familie zu­nächst eine „persönliche Geste“, bevor er sich dem Notfall widmen könne. Er will bestochen werden. Lustlos setzen sich die Schwesternschülerinnen in Bewegung, erstes Ausbil­dungsjahr, es gibt im Entbindungs­trakt zehn von ihnen. Sie rennen nicht, sie schreiten in ihren blauen Uniformen. Fatma­ta hat eine sogenannte Eklampsie, hoch­schießenden Blut­druck und Krampfanfälle. In Sierra Leone verläuft diese Krankheit häufig tödlich. Ihr Gehirn wird unterver­sorgt. Das Kind ebenfalls. Dringend bräuchte sie eine Magne­siumsulfat-Injektion, um die Muskeln zu lösen, dazu einen Kaiserschnitt. Sie wird im Kreißsaal auf eine Pritsche gelegt und bekommt statt dessen: nichts.

Die Todesrate im Nixon Memorial ist hoch. Hier starben im Jahr 2009 zwölf von 125 Patientinnen. Am geringsten sind die Überlebenschancen von Frauen, die zur Nachtschicht eingeliefert werden. Der Krankenpfleger überlässt Fatmata den Schwesternschülerinnen, er flirtet mit ihnen, füllt Formu­lare aus, dann geht er schlafen. Die in Lebensgefahr schwe­bende hat er nur einmal kurz angeschaut. „Ich kann euch nicht mehr ertragen“, herrscht eine Schülerin Fatmatas Mutter und ihre Geburtshel­ferin an und wirft sie aus dem Kreißsaal. Nun gibt es nieman­den mehr, der der Schwangeren Aufmerksam­keit schenkt. Der Raum ist erfüllt vom Scherzen, La­chen, Kichern der Auszubildenden – und dem Schreien des Mädchens. „Du darfst nicht so schreien“, tippt eine Schülerin mit der Finger­kuppe auf ihr nacktes Fleisch, „dann wirst du hässlich, häss­lich, hässlich.“ Wenig später fließt Blut aus Fatmatas Mund.

Die Sehnen heben sich zentimeterdick aus ihrem Hals, der Kopf biegt sich zurück, die Beine strecken sich, dass die Knie knacken. Ein zweiter Anfall, gegen neun Uhr. Die zehn Aus­zubildenden unterbre­chen das Blödeln, jemand weckt den Krankenpfleger. „Schnell“, sagt er. Fatmata hat sich im Krampf in ihre Zunge verbissen, daher das Blut, an dem sie jetzt zu ersticken droht. „Schnell“, sagt er wieder. Jeder Atemzug gurgelt in der Luft­röhre. Die Auszubildenden drü­cken die zuckenden Beine auf die Pritsche. Er zieht endlich eine Spitze des Magnesiumsul­fat auf, schickt eine Schülerin ins Labor, um einen Esslöffel zu holen. Sticht die Nadel in die Hüfte der Starren, lässt die Schülerin mit dem Watte um­wickelten Löf­felstiel den verbis­senen Kiefer aufbrechen. Sie schafft es al­leine nicht, andere treten hinzu, halten den Kopf, zu dritt, zu viert. Dann gelingt es ihnen, und das Gurgeln wird schwächer, bis es verklingt.

Schweigend sammelt sich die Familie an der Glastür zum Kreiß­saal, die ist mit weißer Farbe bestrichen, doch gibt es Risse. Durch die starren sie, im Stehen, in der Hocke, auf dem Bauch liegend. Fatmatas Mutter drückt ihr Gesicht an das Glas, legt ihre Hände darauf. Marianna Kamara ist unter den Frauen bereits eine Art Kriegsveteran. Die 40-Jährige hat die Kinderphase lebend überstanden, sechs Geburten, ganz knapp die von Fatmata. „Zwei Tage lang“, sagt sie. „Solche Schmerzen.“ Doch viele andere waren um sie herum verstor­ben, Nachbarinnen, Frauen, die sie von der Feldarbeit kannte, erst neulich eine Cousine wieder. „Aber nicht Fati,“ sagt die Mutter an der Glastür. „Nicht sie.“ Das Kinderkriegen schlägt größere Lücken in die Frauenjahrgänge Sierra Leones als sie der Krieg in die Reihen der Männer jemals riss.

Die Krämpfe flauen ab, geben Fatmatas Körper wieder frei. Sie dämmert dahin, glaubt, sie sei zu Hause, in der Hütte in ihrem Dorf. Die Fruchtblase platzt kurz vor Mitternacht. Der Krankenpfleger zieht die Gummihandschuhe an. Er horcht mit dem Hörrohr, das Baby lebt, ist aber noch tief in der Mut­ter. Die immer erschöpfter wird. Die Wehen werden schwä­cher. Wieder und wieder krümmt sie sich in den nächsten Stunden auf ihrer Pritsche, bäumt sich auf. Sie schreit längst nicht mehr, sondern wimmert nur. Liegt oft reglos da wie ein Op­ferlamm auf der Schlachtbank. „Vielleicht“, sagt der Kran­kenpfleger gegen 2.40 Uhr, „ist es schon zu spät für das Kind.“ Er beugt sich zu Fatmata hinunter und spricht ihr ins Ohr. „Streng dich an. Du kriegst sonst einen Kaiserschnitt. Der wird deiner Familie ein Vermögen kosten.“ Den Erlös ei­ner ganzen Jahresernte.

Das ist der Grund für die große Leere im Nixon Memorial, die vielen unbelegten Betten. Wie verloren bewegen sich die wenigen Patienten zwischen ihnen. Während draußen die Menschen darben, einfachste Leiden nicht kurieren können, langweilt sich hier das Pflegepersonal. So ist es überall in Si­erra Leone. Es gibt Krankenhäuser, aber nur wenige gehen hin. Nur wenige können sie es sich leisten. Es muss in bar be­zahlt werden, jede Kanüle, jede Handreichung. Die als Not­fälle Eingelieferten werden so­lange im Krankenhaus gehal­ten, bis ihre Familie sie auslösen. Im Entbindungstrakt des Nixon Memorial lebt seit über drei Monaten eine Frau mit Säugling, die der Klinik 80 Euro für einen Kai­serschnitt schuldet. Ihr Mann, ein Dia­mantenschürfer, kam zum letzten Mal vor Wochen vorbei. Sie ernährt sich von Es­senresten der Schwesternschülerinnen. „Ich habe daran gedacht, einfach wegzulaufen“, sagt sie. „Aber ich habe Angst vor den Schwestern. Sie würden mich finden.“ Deshalb bleiben die Menschen in den Dörfern. Der Tod dort ist günstiger als der hinter Klinik-Mauern.

Die einzige Ausnahme im Land ist die Klinik der französi­schen Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ im Distrikt Bo, vier Autostunden entfernt. Die Behandlung ist kostenlos, die 21 Betten im Entbindungstrakt sind häufig doppelt belegt. Aus allen Landesteilen kommen verzweifelte Frauen. Doch selbst diese letzte Zuflucht ist bald keine mehr. Die Helfer, auf Krisen spezialisiert, ziehen sich in zwei Jahren zurück - wie viele andere Organisationen, die das Land be­reits verlas­sen haben. Denn in Sierra Leone wird seit vielen Jahren nicht mehr gekämpft. Es gilt nicht länger als Krisengebiet. Die Frauenärztin Greetje Torbeyus – wohl die einzi­ge im ganzen Land - ist bei „Ärzte ohne Grenzen“ jeden Tag davon umge­ben. „Die Zustand der Frauen ist hier viel schlechter als etwa im Kon­go“, sagt sie. „Die Komplikatio­nen sind ernster. Die Frauen kommen, wenn sie sich fast zu Tode geblutet haben.“ „Ärzte ohne Grenzen“ suchen eine Hilfsorganisation, die das Kran­kenhaus übernimmt. Bisher hat sich noch keine gefun­den.

Unweit des Nixon Memorial steht der Sarg am Altar der me­thodistischen Kirche, die Trauergemeinde trägt weiß. Es ist der Tag, bevor Fatmata im Kreißsaal mit dem Leben ringt. „Sehr bald werdet ihr an ihrer Stelle sein“, zeigt der Priester auf den aufgebahrten Sarg. Darin liegt die Frau eines hohen Regierungsbeamten. Sie ist mit 37 in der Hauptstadt Free­town während ih­rer vier­ten Schwangerschaft gestorben und wurde von ihrem Mann in ihre Heimat überführt. Er klam­mert sich an den Sarg, so wie sich die kleinste seiner Töchter an ihn klammert. Sechs ist sie neulich geworden. Sie weicht nicht von seiner Seite. „Ich weiß nicht, wie es jetzt weiterge­hen soll“, sagt er und klopft wei­nend auf den Sargde­ckel. „Sie hat mich geliebt.“ Freunde lösen ihn vom Sarg, und der Pries­ter zitiert die englische Übersetzung von Psalm 90,5. „Du löscht sie aus wie einen Traum in der Nacht.“ Der vergäng­liche Mensch. Das ist der Trost, der ihnen in dieser Kirche bleibt.

Das Leben bricht aus Fatmata hervor. Eine letzte Kraftan­strengung drückt den Kopf hinaus, ein letztes Schreien presst die Schultern heraus. Der Krankenpfleger umfasst behutsam den Leib des Babys. Die Uhr im Kreißsaal steht auf 3.47 Uhr.

Es ist ein Mädchen.

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Wolfgang Bauer


Hamburger. Jahrgang 1970. Im äußersten Norden und Süden Deutschlands aufgewachsen. Zeitsoldat, Kriegsdienstverweigerung. Zweiter Bildungsweg auf dem Abendgymnasium Reutlingen, währenddessen Bäckereifahrer, Fremdenführer, Möbelpacker, Müllsortierer. Studium an der Universität Tübingen, zunächst Islamistik, später Geographie und Geschichte. Seit 1994 als freier Journalist tätig. Das Schreiben gelernt beim Schwäbischen Tagblatt (Tübingen). Autor der Agentur Zeitenspiegel/ Stern-Büro Baden-Württemberg. Zwischen 2001 und 2010 Pauschalist des Reportagenressorts bei Focus. Seit 2011 Autor für ZEIT-Dossier und ZEIT-Magazin. Unterwegs auch für Neon/Nido und das Greenpeace Magazin. Diverse Journalistenpreise.
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Dokumente
Das Sterben der Mütter

erschienen in:
Nido,
am 15.03.2010

 

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